Vom Reststoff zum Rohstoff: Smarte Tools für eine nachhaltige Bioökonomie  [14.04.25]

Wegweiser für landwirtschaftliche Nebenströme: Zwei unter Leitung der Universität Hohenheim entwickelte Werkzeuge helfen, unausgeschöpftes Potenzial aufzuzeigen.

Ob Getreidestroh, Spelzen oder Blätter und Stängel von Gemüse: Rund 7,7 Millionen Tonnen landwirtschaftliche Nebenprodukte fallen allein in Baden-Württemberg jährlich in landwirtschaftlichen Betrieben an, hinzu kommen viele Tonnen aus der Verarbeitung von überwiegend Lebensmitteln. Sie werden derzeit meist in der Tierhaltung eingesetzt oder verbleiben auf den Feldern. Dabei könnte ein großer Teil zu hochwertigen Produkten verarbeitet werden, ohne den Humusaufbau zu gefährden – von Proteinen für die Lebensmittelindustrie bis hin zu Verpackungsmaterialien. Zwei neue, innovative Werkzeuge erleichtern nun die Einordnung dieses Potenzials: die ReBioBW Factsheets und das ReBioBW GIS-Tool. Entwickelt haben sie Forscherinnen und Forscher der Universität Hohenheim in Stuttgart und des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Sie können landwirtschaftliche Betriebe und Unternehmen bei der Etablierung neuer Veredelungsverfahren und Geschäftsmodelle unterstützen, der Politik helfen die richtigen Rahmenbedingungen zu setzen und sie können in der Ausbildung eingesetzt werden und allen Interessierten einen schnellen Einstieg in die komplexe Thematik bieten. Die Tools sind ab sofort kostenfrei verfügbar: rebiobw.uni-hohenheim.de/aktuelles

Landwirtschaftliche Nebenströme gezielt und gewinnbringend nutzen: Zwei unter Leitung der Universität Hohenheim entwickelte Werkzeuge helfen, unausgeschöpftes Potenzial zu erschließen | Bildquelle: Universität Hohenheim / Max Kovalenko


In landwirtschaftlichen Nebenströmen sind wertvolle Inhaltsstoffe enthalten, die diese als Rohstoff für vielfältige Anwendungen attraktiv machen. Sie könnten dazu beitragen fossile Rohstoffe zu ersetzen, CO₂-Emissionen zu reduzieren und eine ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft aufzubauen.

Doch noch gibt es viele offene Fragen: Welches Potenzial verbirgt sich hier wirklich? Welche Mengen an Nebenströmen sind tatsächlich vorhanden? Wie viel kann durch neue Technologien aus bestehenden Stoffströmen herausgeholt und zu Rohstoffen für die Industrie umgewandelt werden? Wie können neue Technologien nachhaltig eingesetzt und zugleich Nährstoffkreisläufe beachtet werden? Welche Chancen ergeben sich aus der Reststoff-Nutzung für neue regionale Wertschöpfungsketten im ländlichen Raum?

Antworten auf diese Fragen geben Forschende im Kooperationsprojekt ReBioBW unter Leitung von Prof. Dr. Franziska Schünemann im Rahmen der Landesstrategie „Nachhaltige Bioökonomie für Baden-Württemberg“.

„Wissen über die Bedürfnisse der Landwirtschaft sowie die Anforderungen und Chancen einer industriellen Nutzung landwirtschaftlicher Nebenprodukte ermöglicht Landwirt:innen und Unternehmen gemeinsam innovative Geschäftsmodelle auf Basis lokaler Rohstoffe zu entwickeln. So können nachhaltige und effiziente Kreisläufe entstehen“, betont Marius Boesino, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Bioökonomie der Universität Hohenheim.


ReBioBW Factsheets: 350 Rohstoffquellen im Blick

Die neuen Tools leisten hierzu einen wesentlichen Beitrag, indem sie Informationen bündeln und visualisieren, die bislang schwer zugänglich waren. So erfassen die ReBioBW Factsheets über 350 Nebenströme und bieten detaillierte Informationen zu ihren Inhaltsstoffen.

Dabei berücksichtigen sie eine Vielzahl an denkbaren Verwertungsmöglichkeiten: Von der Gewinnung von Proteinen und Ballaststoffen für die Lebensmittel-, Pharma- oder Kosmetikindustrie über die Verwendung als Dämm- und Verpackungsmaterialien für die Bauindustrie bis hin zu sogenannten Plattformchemikalien für die Chemieindustrie.


ReBioBW GIS-Tool: Interaktive Karte für Nebenstrombiomassepotenziale

Diese Informationen ergänzt das ReBioBW GIS-Tool durch eine interaktive Karte, die das theoretisch verfügbare Biomassepotenzial der pflanzlichen Nebenströme in Baden-Württemberg bis auf Gemeindeebene aufschlüsselt und visualisiert. Dabei steht die Abkürzung GIS für „Geographisches Informationssystem“.

Farbige Abstufungen ermöglichen es Unternehmen und Landwirt:innen, auf einen Blick zu erkennen, welche Rohstoffe in ihrer Region in welcher Menge vorkommen. Ein zentrales Anliegen von ReBioBW ist es, Chancen für eine neue regionale bioökonomische Wertschöpfung aufzuzeigen. Die Nutzung von Nebenströmen eröffnet Landwirt:innen die Perspektive auf neue Einkommensquellen und kann gerade im ländlichen Raum Arbeitsplätze schaffen.


ReBioBW ermöglicht das Schließen von Stoffkreisläufen

Neben großen Chancen weisen landwirtschaftliche Nebenströme aber auch Herausforderungen auf. So darf ihre Nutzung weder den Humusaufbau noch die Kohlenstoffspeicherung im Boden gefährden. Auch müssen bereits bestehende Verwendungsmöglichkeiten wie zum Beispiel als Tierfutter berücksichtigt werden. ReBioBW verfolgt deshalb einen ganzheitlichen Ansatz, um solche Zielkonflikte zu vermeiden.

Die Daten und Erkenntnisse aus den ReBioBW Factsheets und dem GIS-Tool bilden die Grundlage für weitere Innovationsschritte. „Entscheidend ist, dass wir verlässliche und innovationsfreudige Rahmenbedingungen für die Wirtschaft schaffen. So entstehen gerade im ländlichen Raum in Baden-Württemberg spannende Innovationsräume, die dabei helfen, dass Forschungseinrichtungen ihr Wissen mit dem der landwirtschaftlichen Praxis und der Industrie verknüpfen können und Innovationen so noch stärker vorantreiben“, sagte der Minister für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz, Peter Hauk MdL.

„Neue Anbau-, Ernte- und Verarbeitungstechnologien dürfen sich nicht nur auf die Hauptfrüchte konzentrieren. Sie müssen auch Nebenströme als Koppelprodukte gezielt einbeziehen“, betont Dr. Evelyn Reinmuth, Leiterin der Geschäftsstelle Bioökonomie an der Universität Hohenheim. So sollten die Anbauverfahren von vornherein eine für die Kaskadennutzung geeignete Nebenstromqualität gewährleisten, damit dieselbe Biomasse mehrfach genutzt werden kann.

Beispielsweise können Trester, die bei der Herstellung von Fruchtsäften anfallen, für vielfältige Anwendungen in der Lebensmittelindustrie, aber auch in der pharmazeutischen, kosmetischen und chemischen Industrie genutzt werden: „Dazu müssen sie allerdings bis zur Verarbeitung richtig gelagert und so stabilisiert werden, dass weder enzymatische Prozesse die Verwertung der wertvollen Inhaltsstoffe verhindern, noch gesundheitsschädliche Belastungen, etwa durch Schimmelpilze, entstehen“, erklärt Dr. Reinmuth.

Sofern die Nebenströme durch ein nachhaltiges Verfahren aufbereitet werden, können die verbleibenden Reststoffe dann in die Biogasproduktion einfließen und die in den Gärprodukten enthaltenen Nährstoffe wieder auf landwirtschaftliche Flächen ausgebracht werden.


HINTERGRUND: Potenziale landwirtschaftlicher Reststoffe für die Bioökonomie in Baden-Württemberg (ReBioBW)

Das Verbundprojekt ReBioBW, in dem die Universität Hohenheim mit dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zusammenarbeitet, setzt eine Maßnahme der ressortübergreifenden Landesstrategie Nachhaltige Bioökonomie Baden-Württemberg (LSNB) um, mit der das Land zu einer Leitregion für biobasiertes, kreislauforientiertes Wirtschaften entwickelt wird. Die Ergebnisse dienen auch als Grundlage für die zweite Phase der LSNB, die dieses Jahr an den Start geht.

Das Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz Baden-Württemberg (MLR) fördert das Vorhaben mit rund 630.000 Euro. Davon erhält die Universität Hohenheim gut 475.000 Euro, was das Projekt zu einen „Schwergewicht der Forschung“ macht.


HINTERGRUND: Schwergewichte der Forschung

37,7 Millionen Euro an Drittmitteln akquirierten Wissenschaftler:innen der Universität Hohenheim 2023 für Forschung und Lehre. In loser Folge präsentiert die Reihe „Schwergewichte der Forschung“ herausragende Forschungsprojekte mit einem finanziellen Volumen von mindestens 350.000 Euro für apparative Forschung bzw. 150.000 Euro für nicht-apparative Forschung.

Text: Stuhlemmer

Kontakt für Medien:

Marius Boesino in Vertretung für Prof. Dr. Franziska Schünemann, Universität Hohenheim, Fachgebiet Bioökonomie
E marius.boesino@uni-hohenheim.de

Dr. Evelyn Reinmuth, Universität Hohenheim, Geschäftsstelle Bioökonomie
T+49 711 459 22827, E Evelyn_Reinmuth@uni-hohenheim.de


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